
© Gestaltung: Tagesspiegel/dpa Pool
Monika Grütters‘ Vision für Berlin 2030: „Experimentierfeld für Zusammenhalt in Vielfalt“
Berlins Vielfalt birgt nicht nur Positives, sondern auch Probleme. Wie die Kultur der Schlüssel für ein gutes Miteinander sein kann, erklärt hier die frühere Kulturstaatsministerin.
Unter Deutschlands Städten ist Berlin weder die älteste noch die schönste, aber unerreicht in ihrer Lebendigkeit, wie Richard von Weizsäcker es 1990 in seiner Rede anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerwürde formulierte. Das soll bitte auch im Jahr 2030 noch so sein!
Waren es Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere Bilder technischer Innovationen, die Sehnsüchte weckten und Zukunftshoffnungen beflügelten, so wünschen sich heute viele Berlinerinnen und Berliner ein Miteinander über nationale, ethnische, soziale und kulturelle Grenzen hinweg, sie träumen von mehr Achtsamkeit und Wertschätzung füreinander, von der Notwendigkeit, das Gemeinsame zu suchen und nicht das Trennende.
Freiheit in Vielfalt
Etwa 170 Nationalitäten leben hier zusammen; der Anteil der Berlinerinnen und Berliner mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit ist mittlerweile auf 24,4 Prozent gestiegen. Als Metropole, die dabei die klügsten und kreativsten Köpfe aus der Welt der Wissenschaft, aus der Welt der Kultur – und ja: auch aus der Subkultur – anzieht und mit den Künstlern, mit den Vordenkern, den Abenteurern und den Experimentierfreudigen die Innovationskraft aus aller Welt in die Stadt lockt, steht Berlin für Vielfalt und Weltoffenheit.
Das ist Berlins größte Stärke, das ist Berlins Kapital, das ist ein Pfund, mit dem die Hauptstadt wuchern kann! Jedenfalls gibt es wohl kaum ein schöneres Kompliment für eine Stadt, als die Sehnsucht junger Menschen unterschiedlicher Herkunft, hier leben und arbeiten zu wollen.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.
Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.
Doch die Vielfalt der Kulturen und Religionen, Traditionen und Träume, Lebensentwürfe und Weltanschauungen kann zweifellos ebenso konfliktträchtig und bedrohlich sein, wie sie inspirierend und bereichernd ist – je nachdem, ob die Ankunftsstadt Zuwanderern nur eine Bleibe oder auch eine Heimat bietet und ob es gelingt, unterschiedliche Gruppen aus Neuankömmlingen und Alteingesessenen miteinander in Verbindung zu bringen.
Das stellt nicht nur die Sozial-, Innen-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik vor enorme Herausforderungen, sondern bei der Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Vielfalt, ist auch und insbesondere die Kulturpolitik gefragt. Berlin kann sich als Stadt der Weltoffenheit und Freiheit wie auch als Experimentierfeld für Zusammenhalt in Vielfalt profilieren, wenn es gelingt, Berlins Reputation als Kultur- und Kreativmetropole zu stärken und zum anderen noch mehr als bisher die integrative Kraft der Kultur als Spiegel und Brückenbauerin zu fördern.
Kraft der Kultur
Von der Reputation als Kultur- und Kreativmetropole profitiert Berlin ja schon jetzt enorm, auch in wirtschaftlicher Hinsicht - allein schon dank eines schier unerschöpflichen kulturellen Angebots.
In den wilden Jahren nach dem Fall der Mauer entstand zwischen Anarchie und Aufbruch ein Biotop für Experimente und Enthusiasmus in der Kunst, und auch wenn Gentrifizierung und steigende Mieten diesem Biotop mittlerweile gefährlich zusetzen, ist die Inspiration durch eine sowohl von europäischen als auch außereuropäischen Traditionen geprägte, junge Künstlergeneration ein Gewinn für das kulturelle Leben in ganz Deutschland und für Deutschlands Ansehen in der Welt.
Dafür stehen beispielhaft die Museumsinsel, die Berlinale, die Berliner Philharmoniker, das neue Kulturforum, die Barenboim-Said-Akademie, das Humboldt-Forum und viele andere Aktivitäten mehr.
Um sich im internationalen Wettbewerb um Vor- und Querdenker, um kluge und kreative Köpfe zu profilieren, braucht Berlin über ein vielfältiges, kulturelles Angebot hinaus aber auch weiterhin Freiräume, in denen Ideen und Innovationen gedeihen können: bezahlbaren Raum zum Leben und Arbeiten, dazu Gestaltungsspielraum, Raum zur Entfaltung, Resonanzraum. Deshalb darf die Politik nicht tatenlos zusehen, wie der Stadt die Freiheiten und Freiräume, die ihr diesen besonderen Charme und ein Alleinstellungsmerkmal verliehen, langsam abhandenkommen, durch hohe Mieten zum Beispiel, sondern sie muss im eigenen Interesse diesem Missstand begegnen, indem sie die Arbeitsmöglichkeiten gerade für die Freie Szene systematisch fördert.
Schmelztiegel der Kulturen als Herausforderung
Vielfalt wird allerdings nicht nur als Bereicherung gefeiert, sondern auch als Herausforderung mit Gefahren und Risiken verstanden.
Die naive Vorstellung eines heiter-bunten „Multikulti“ vernebelt den Blick auf Konflikte, die in „Schmelztiegeln der Kulturen“ gären – und auf die Frage, welche grundlegenden Werte und Regeln des Zusammenlebens eine Gesellschaft vertreten, vermitteln und einfordern will. Solche Debatten zu führen, ist für die Zukunft gerade einer internationalen Stadt unverzichtbar – allein schon deshalb, weil die Konfrontation mit fremden Lebensweisen und Weltanschauungen vielerorts diffuse Ängste nährt.
Diese Ängste und auch das weit verbreitete Bedürfnis nach Selbstvergewisserung sollten wir nicht den Nationalisten überlassen, die mit ihrer Ideologie des Eigenen und mit der Abwertung des Anderen, Rassismus und Ausgrenzung propagieren.
Kultur als Brückenbauerin
Gerade hier wirkt die Kultur als Brückenbauerin und Türöffnerin, aber sie ist auch Ausdruck und Spiegel unserer Identität. Ob Poesie, ob Malerei, ob Musik, Theater oder Tanz: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren. Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Kunst kann uns helfen zu verstehen, was uns ausmacht, wer wir sind – als Berliner, als Deutsche, als Europäer.

© Frank Sperling
Kunst kann uns aber auch nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus den Augen Anderer, noch Fremder zu sehen. Die Kultur in ihrer Rolle als Spiegel und als Brückenbauerin zu stärken, spielt deshalb für die Zukunft Berlins eine entscheidende Rolle. Dafür steht beispielhaft das Humboldt-Forum. Wenn am Ende eines Besuchs im Humboldt-Forum die Erkenntnis steht, dass uns Menschen überall auf der Welt trotz aller Differenzen und Konflikte mehr verbindet als uns trennt, wäre für Demokratie und Verständigung in Deutschland und in der Welt schon viel gewonnen.
Dass Berlin sich in diesem Sinne als Experimentierfeld für ein Miteinander in Vielfalt und für Verständigung über tiefe Gräben hinweg profilieren kann, zeigt auch Berlins enormes Potenzial in der Musik.
Die Orchestermusik ist eine Sprache, die mehr als jede andere des Zuhörens und Einfühlens bedarf – des Lauschens auf andere Stimmen, auf Takt und Tonart, auf laut und leise –, und die als einzige Sprache über den Verdacht einseitiger Parteinahme erhaben ist. Musik öffnet Welten. Diese Erfahrungen sind nicht mathematisch quantifizierbar, und sie tauchen in keiner Export-Statistik auf. Aber sie sind es, die Verständigung und Verständnis ermöglichen und auf die es deshalb ganz besonders ankommt, wenn Politik und Diplomatie an ihre Grenzen stoßen.
Wo, wenn nicht hier – im ehemals geteilten, von der scheinbar unüberwindbaren Konfrontation zwischen Ost und West im Kalten Krieg geprägten Berlin – könnte die Überzeugung gedeihen, dass Frieden und Versöhnung möglich sind! Wo, wenn nicht hier – im multikulturellen Berlin, dessen Freiräume und inspirierende Vielfalt Künstlerinnen und Künstlern aus aller Welt anziehen – könnte der Versuch gelingen, mithilfe der Kunst jenseits des Trennenden das Gemeinsame zu suchen und zu finden! Den mittlerweile erprobten eintrittsfreien Sonntag sollte eine Senatsverwaltung, die neben der Kultur auch den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ im Namen führt, daher auch weiterhin verteidigen.
Bewusstsein der eigenen Identität
Die Kulturpolitik kann zu einem gelingenden Miteinander in einer pluralistischen Stadtgesellschaft als treibende Kraft für eine Kultur der Verständigung wirken. Verständigung erfordert einerseits ein Bewusstsein der eigenen Identität. Denn nur wer das Eigene kennt und wertschätzt, kann auch dem Fremden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen, und nur, wer sich begründet abgrenzen kann, ist imstande, die eigenen (demokratischen) Werte zu verteidigen.
So sehr Verständigung einerseits Selbstbewusstsein und Selbstvergewisserung – das Einstehen für das Eigene – erfordert, so unverzichtbar ist es andererseits aber auch, das Verbindende über das Trennende stellen zu können: das Menschliche über die Unterscheidung zwischen gläubig und ungläubig, zwischen deutsch und nicht-deutsch, zwischen weiblich und männlich, zwischen muslimisch und christlich.
Zu den dazu notwendigen Lernerfahrungen können gerade Kunst und Kultur in besonderer Weise beitragen. Mit ihrem außergewöhnlichen Reichtum an kulturellen Schätzen und ihrer enormen Dichte an Kultureinrichtungen mit Reputation und Strahlkraft weit über die Stadtgrenzen hinaus könnte und sollte Berlin kulturpolitisches Experimentierfeld sein: für Zusammenhalt in Vielfalt, für eine vielfarbige Blüte bis 2030.
Statt unterschiedsloser Sparvorgaben brauchen wir eine am Gemeinwohl orientierte Prioritätensetzung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Dafür wünsche ich mir mehr Mut und Ehrgeiz – nicht nur als Kulturpolitikerin, sondern vor allem als Herzensberlinerin.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid:
- showPaywallPiano:
- false