Was hat er sich dabei gedacht? – Seite 1

Ist es die Rache für die fetten Jahre? Die Zahlen jagen Schockwellen durch die Berliner Kulturszene. Knapp 150 Millionen Euro müssen ab dem Jahreswechsel eingespart werden, das sind fast 16 Prozent der Kulturförderung. Klingt viel, ist viel. Und die Branche wehrt sich, solidarisiert sich, demonstriert, verliest Protestnoten an der Rampe, lanciert Online-Petitionen, überreicht Unterschriftenlisten.

Über den Kulturbegriff wird seit je gerne gestritten, über den Sinn staatlich subventionierter Kunstarbeit und über die dazugehörigen Zahlen sowieso. Nicht nur in Berlin. Umso mehr fragt man sich, welches Projekt wohl hinter dem aktuellen Hauptstadt-Szenario steckt. Muss uns Kunst in Zeiten von Krieg, Inflation und volatiler Weltwirtschaft notgedrungen weniger wert sein? Lässt sich hier mehr noch als ein ökonomischer Verteilungskampf vielleicht ein ideologischer beobachten, zwischen ehedem linker, rot-rot-grüner Kulturpolitik und rechter, vornehmlich CDU-gesteuerter? Alles, was der Ex-Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) sechseinhalb Jahre lang angeschafft hat, schafft sein Nachfolger Joe Chialo (CDU) seit Ende April 2023 wieder ab?

Chialo gilt als der große Buhmann. Klar, er musste "Härten" kommunizieren, das tut niemand gern. Was hat er selbst zu seinem miserablen Image beigetragen? Wer sich auf den Weg nach Mitte aufmacht, in die Senatskulturverwaltung in der Brunnenstraße, lernt einen charmanten, witzigen, mitunter leicht ängstlich wirkenden 54-Jährigen kennen, der unter großer Kunst an der Wand (die Hollywood-Schriftzüge von hinten fotografiert, am unteren Bildrahmen windet sich ein Stück echter Maschendrahtzaun) an einem großen Tisch sitzt. Vor ihm liegen mehrere kleine Stapel mit Papieren, am Kopfende des Tisches verfolgen zwei Mitarbeiter aus der Verwaltung das Gespräch und machen Notizen. Chialos Händedruck ist warm, die Stimme angenehm. Zum Repräsentieren scheint er wie gemacht zu sein. Aber reicht das?

Um das Fünf-Milliarden-Loch zu stopfen, das im Gesamthaushalt des Landes Berlin klafft (die alte Bankenkrise, die Coronakrise, die Inflation, die Energiekosten, der Ukrainekrieg), soll dieser bis 2026 in drei Stufen um 7,5 Prozent abgesenkt werden. Schön ist das für niemanden. Der Kulturhaushalt aber mit seinen 16 Prozent sinkt in der gleichen Zeit um mehr als das Doppelte. Obwohl ihr Anteil am Ganzen nur 2,1 Prozent beträgt, wird die Kultur also überproportional in die Pflicht genommen. Ihr viel wegzunehmen, bringt wenig. Und Chialo kann im Grunde nicht erklären, wie es dazu kam. Viele Stimmen, selbst ihm wohlgesinnte aus seiner Partei, sagen, er habe nicht geliefert, nicht gekämpft, sei zu spät oder gar nicht in die Offensive gegangen. Diese Gelegenheit habe der Finanzsenator Stefan Evers (CDU) ergriffen und genutzt. Und weg war das Geld.

Wird auf dem Rücken der Kultur also Symbolpolitik betrieben, und der zuständige Senator schaut zu? Die Lesart kommt einem ein bisschen wohlfeil und unterkomplex vor, aber so funktioniert Politik manchmal. Seht her, ruft die Regierungskoalition aus CDU und SPD in Richtung ihrer jeweiligen Klientel, das Anwohnerparken bleibt so günstig wie in keiner anderen deutschen Großstadt (20,40 Euro für zwei Jahre), dafür fällt das 29-Euro-Ticket leider weg und der kostenfreie Museumssonntag auch und die Service GmbH für die Musikschulen, und viele Radwege werden rückabgewickelt oder dem sanften Verfall überlassen. Die Wählerschaft hat es schließlich so gewollt.

"Opferkonkurrenz", nennt Chialo das, anfangen kann er damit nichts. Das geht bei ihm so weit, dass er bisweilen mehr den anderen Ressorts das Wort zu reden scheint als seinem eigenen. Politisch seien Schwerpunkte gesetzt worden, betont er, auf Bildung, innere Sicherheit und Soziales. "Jeder Kulturliebhaber hat vielleicht ein Kind, das zur Schule geht, jeder Kulturliebhaber möchte nach dem Theaterbesuch sicher nach Hause gehen. Und vielleicht ist die Großmutter in einer sozialen Einrichtung, in der sie gepflegt wird." Es sei Konsens, dass diese Bereiche geschützt werden müssten. Aber gibt es denn auch ein Bekenntnis zur Kultur, so etwas wie Rückendeckung oder gar Stolz, was die Kürzungen wenigstens psychologisch verschmerzbarer machte?

Es trifft ja nicht alle gleich. Große Institutionen wie die Opernstiftung können dank Rücklagen gewisse Effekte abfedern, kleine Häuser hingegen stehen schnell vor dem Aus, und teils privat finanzierten, hervorragend besuchten Theatern wie der Schaubühne oder dem Berliner Ensemble droht die Insolvenz. Vom Schicksal der Komischen Oper ganz zu schweigen, deren Stammhaus an der Behrenstraße gerade renoviert wird und nun einen Baustopp auferlegt bekommen hat, der mindestens 250 Millionen Euro zusätzlich kosten wird. Verrückt.

Es gibt mehrere Probleme

Chialos Vorgänger Klaus Lederer fragte, ohne dass es je wie das Mantra eines üblichen Verdächtigen geklungen hätte: Was wäre die deutsche Hauptstadt ohne ihre Theater, Konzerthäuser, Museen, Stiftungen und Gedächtnisorte? ("Berlin ohne Kultur ist nur Bielefeld mit big buildings", lautete unlängst die hübsche Antwort Barrie Koskys, Ex-Intendant der Komischen Oper.) Unter Lederer ging es der Kultur gut. Die Stadt fand sich selbst attraktiv, lockte Menschen an, internationale Künstlerinnen und Künstler, Mäzene. Man könnte jetzt Klaus Wowereit paraphrasieren, der die Kultur als Regierender Bürgermeister einst zur Chefsache erklärte. Berlin ohne Kultur? Arm und unsexy.

Joe Chialo hingegen spricht von der "Haushaltssanierung als absolutem Kernziel" und fragt: "Wie sehen resiliente Strukturen in der Kultur aus, die notwendig sind, um einer solchen Krise zu begegnen? Wie können sich die Häuser so aufstellen, dass sie für die Zukunft fit und gewappnet sind?" Klingt erst mal total vernünftig. Niemand in Berlin sagt, dass die Kultur nicht sparen müsse. Ganz sicher hat sich hier strukturell einiges verfestigt, das längst aufgelöst gehörte und verschlankt. Oder sogar abgeschafft. Einmal nimmt Chialo die Vokabel "Alimentierungsmentalität" in den Mund, aber das tut er leise. Vielleicht fürchtet er jeden allzu deutlich neoliberalen Ton. Wobei es nicht vollkommen absurd ist, dem Nischenmekka Berlin eine solche Mentalität zu unterstellen – und sei es nur als Sediment der guten alten Zeit.

Wenn Chialo also recht hat, wo liegt das Problem? Es gibt mehrere Probleme. Zum einen fehlt die Zeit, um an sich vernünftige Maßnahmen halbwegs vernünftig umzusetzen. Wie sollen Betriebe, deren Mittel zu über 80 Prozent in Fixkosten gebunden sind (auch ein Problem) auf derart einschneidende Mittelkürzungen reagieren, ohne sich auf der Stelle zu massakrieren? Er habe, sagt Joe Chialo, von Anfang an vermittelt, dass nichts so bleiben werde, wie es ist: "Das habe ich nicht gesagt, weil ich ein Hellseher bin, sondern weil völlig klar war, dass das, was in der Vergangenheit State of the Art war, mit vollen Händen Geld auszugeben, so nicht mehr funktionieren wird." Durchgedrungen ist er damit offensichtlich nicht. Außerdem nutzt es praktisch gesehen wenig, für alles und jedes die Vorgängerregierung zur Verantwortung zu ziehen. Selbst wenn die gern auf Pump gelebt hat.

Zum Zweiten wirken die Lösungsansätze und -ideen, die Joe Chialo formuliert, kaum wie der große kreative Wurf, den es jetzt bräuchte, um die Lage der Kultur zu konsolidieren. Chialo will "Doppelstrukturen" abbauen, nun ja, und das Ticketing flexibilisieren. Wenn man im Gespräch weiterbohrt, fallen Schlagworte wie "Exzellenz, Resilienz und Partizipation", die alles sagen und nichts. Und wer dann noch nicht lockerlässt, erfährt, dass sich der Senator mehr Sponsoring in der Stadt wünscht – und auf eine zusätzliche Kreditfinanzierung setzt. Letzteres aber sei, das betont er mehrfach, noch nicht "in Stein gemeißelt", dazu sei es zu früh.

Wenngleich sich die unbedingte Haushaltskonsolidierung und neue, neuartige Schulden zu widersprechen scheinen, ist das mit der Kreditfinanzierung vielleicht ein guter Gedanke (jedenfalls solange die Häuser die Kreditraten nicht an der Abendkasse erwirtschaften müssen). Nur: Richtig erklären kann der Senator auch dieses Modell nicht. Vielleicht ist es dafür in der Tat noch zu früh, doch andererseits, wenn die Zeit so drängt? Chialo gerät ins Schwimmen, wühlt kurz in seinen Papieren, die Mitarbeiter kritzeln etwas in ihre Blöcke. Durch den Raum aber weht das starke Gefühl, dass man es hier mit etwas viel Größerem zu tun hat, als mit einem landespolitischen Shift von eher links nach eher rechts. Hier wird an einem neuen Kulturverständnis geschraubt, und vielleicht ist Joe Chialo, der aus der freien (Musik-)Wirtschaft kommt, die Gesetze des Marktes respektiert und bereits als Kulturstaatsminister an der Seite von Friedrich Merz gehandelt wird, dafür genau der richtige Mann und Mechaniker.

Vielleicht aber auch nicht. Und das führt zum dritten und größten Teil des Problems – ihm selbst. Man mag es grundfalsch finden, die Kultur (nicht nur) in Berlin auf mittlere Sicht mit mehr Eigenverantwortung auszustatten, sie erfolgsorientierter und, ja, "relevanter" agieren zu lassen. Chialo nennt das "auf die Selbstheilungskräfte der Kultur vertrauen". Das wäre eine legitime Position, die sauber begründet, durchargumentiert und verteidigt werden müsste. Das tut Chialo nicht, weil er es nicht will oder nicht kann oder weil er Auseinandersetzungen scheut. Aus gut informierten, ihm grundsätzlich gewogenen Kreisen heißt es, er sei ein gescheiterter Quereinsteiger, dem die politische Erfahrung und das nötige Handwerkszeug fehlten, um im Machtpoker der verschiedenen Gewerke auch nur ansatzweise mitzumischen. Andere, ihm weniger Gewogene sagen, er sei überfordert und unbelehrbar und habe mit den Inhalten seines Ressorts nichts am Hut. Für die Kultur in dieser Situation ist beides fatal.

Dieser Tage soll es in Berlin einen Runden Tisch beim Regierenden Bürgermeister geben. Kai Wegner (CDU) bittet wichtige Kulturvertreter zum Gespräch. An den Zahlen dürfte das nicht viel ändern, Joe Chialo ist offenbar nicht mit von der Partie. Er höre derzeit gerne Bullet With Butterfly Wings von den Smashing Pumpkins, sagt der Senator zum Abschied, der Song spiegele seine Stimmung wider. "Despite all my rage I am still just a rat in a cage", heißt es da in einer Zeile. Und an einer anderen Stelle heißt es: "Then someone will say what is lost can never be saved".

Mitarbeit: Peter Kümmel, Tobias Timm